Kunsthandwerk: Die Reform - Aus der Masse befreit

Kunsthandwerk: Die Reform - Aus der Masse befreit
Kunsthandwerk: Die Reform - Aus der Masse befreit
 
Als Vater des modernen Kunsthandwerks gilt der englische Schriftsteller, Designer und Sozialutopist William Morris. Die Möbel und Gebrauchsgegenstände seiner Zeit empfand er als ausgesucht hässlich; ihre maschinelle Produktion, die sich im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts durchsetzte, habe nicht nur das Handwerk weitgehend verdrängt, sondern auch das Geschmacksempfinden deformiert. Morris glaubte, »dass das Hässliche Ausdruck einer unserer Moral innewohnenden Gemeinheit ist, uns aufgezwungen durch die gegenwärtige Gesellschaftsform«. Indem er die gesamte Umgebung des Menschen neu gestaltete, wollte Morris, der einem anarchisch gefärbten Sozialismus anhing, zugleich die Gesellschaft verändern.
 
Zusammen mit Freunden gründete Morris 1861 die Firma »Morris, Marshall, Faulkner & Co.«, deren künstlerische und organisatorische Leitung er übernahm und zu deren Mitarbeitern unter anderem Dante Gabriel Rossetti und Edward Burne-Jones zählten. Sie produzierte in Handarbeit alle Gegenstände, die im Haushalt zur Einrichtung und zum täglichen Gebrauch benötigt wurden. Neu war an der Reform des Kunsthandwerks, dass alle Gegenstände nach demselben Formgefühl gestaltet wurden und dass Künstler den Produktionsprozess bestimmten. Vorbild waren die Handwerkstraditionen des Mittelalters. Farbige Glasfenster für Kirchen wurden das Hauptgeschäft der Firma, weil die Herstellung von Einrichtungsgegenständen zu teuer war. Trotzdem wurde gerade die Innenarchitektur wegweisend für die Entwicklung des Kunsthandwerks vom »Arts and Crafts Movement« bis zum Jugendstil.
 
Henry van de Velde führte Morris' Idee weiter, die Kunst ins tägliche Leben einzubeziehen, und verwirklichte dessen Grundsatz: »Mit der Kunst des Hausbaus beginnt alles.« 1895 schuf er mit seinem Haus in Uccle bei Brüssel ein Gesamtkunstwerk, für das er die Inneneinrichtung entwarf und einen eigenen Stil prägte. Mobiliar und Gebrauchsgegenstände sind nach funktionellen Bedürfnissen gestaltet, was auch ihre Ornamentik in Form von stützenden oder sich dehnenden Linien sichtbar macht. »Der Charakter meiner ganzen gewerblichen und ornamentalen Arbeiten entspringt einer einzigen Quelle: der Vernunft, der Vernunftmäßigkeit in Sein und Schein«, schrieb van de Velde. 1895 richtete er vier Räume im Kunstsalon »L'Art Nouveau« in Paris ein, dessen Gründer, der aus Hamburg stammende Kunsthändler Siegfried Bing, zeitgenössische und fernöstliche Kunst ausstellte und damit seine Galerie zu einem Zentrum des »Neuen Stils« machte. Eine der wichtigsten Leistungen van de Veldes aber war 1907 die Gründung der Kunstgewerbeschule in Weimar, an der er bis 1914 wirkte; 1907 wurde er Mitglied des Deutschen Werkbundes.
 
Kunstzeitschriften trugen zur raschen Verbreitung der neuen Formideen bei. Die Richtung, die van de Velde eingeschlagen hatte, wirkte von Paris aus auf die Schulen in Nancy und Barcelona, wo sich üppige, schwellende Dekorationen durchsetzten. Die »Glasgow School of Art« entwickelte dagegen - ebenfalls Ideen aus dem Morris-Kreis weiterführend - eine klare, rationale Formensprache, die von zart linearen Ornamenten und stilisierten Blütenmustern bestimmt ist: Die Impulse von Charles Mackintosh und Arthur Mackmurdo beeinflussten die Darmstädter Künstlerkolonie und die Wiener Werkstätte.
 
Prof. Dr. Hans H. Hofstätter

Universal-Lexikon. 2012.

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